Es war meine erste grosse Tour mit dem Motorrad, wir sind zum Grand Prix von Jugoslawien gefahren, mit einem Umweg über die Dolomiten.
Über 30 Jahre ist das her, und ich erinnere mich noch sehr gut daran.
Helmut, mein kürzlich verstorbener Chef, kannte sich dort sehr gut aus und hat mir die Schönheit dieser Gegend nahe gebracht.
An dieser Stelle sollte ich mich bei ihm dafür bedanken.
Ich weiß noch genau wie wir von Longarone aus die Kehren bis zum Eingang des Vajont-Tales fuhren, wie verwundert ich war, dass man aus der Galerie immer wieder die Staumauer sehen konnte - und dann war da kein See.
Es sollte noch einige Jahre dauern, bis ich diesen Ort verstanden habe.....
6-8-5
487
270.000.000
Eine Geschichte voller Zahlen. Vielleicht, weil ich einen technischen Beruf habe. Vielleicht, weil man mit Malen nach Zahlen zumindest die Umrisse zeichnen kann, wenn das Talent für das Gesamtbild nicht reicht. Denn das Geschehene ist mit und ohne Zahlen kaum zu begreifen, selbst wenn man es betritt.
Es war ein grosses Projekt, ein grosses Desaster, ein grosser Kriminalfall, und so hatte es schon in der Projektierungsphase den richtigen Namen: Grande Vajont.
Mein erster Weg führt ins Dorf Vajont, Italiens kleinste Gemeinde, 35km vom Tal des Wildbaches Vajont entfernt gelegen, dort wo bei Montereale die Cellina aus ihrem Tal in die friulanische Ebene fließt. Ein Dorf ohne Geschichte, streng rechtwinkelig, künstlich. Fehlt nur noch ein Ereignisfeld, die Bahnhofsstrasse und das Gefängnis. Eine Parkallee gibt es hier nicht und die Menschen sehen nicht so aus, als würden sie fröhlich über Los gehen.
Die Menschen aus Erto und Casso wurden auf Lastwagen verladen, so ging es los, ihre Ortschaften wurden eingezäunt, der Zutritt verboten. In Vajont fließend Wasser und WC statt Brunnen und Latrinen, Fortschritt in der neuen Heimat, um die keiner gebeten hatte. Aber was sollten sie tun? Die alten Häuser waren beschädigt, die Felder weg. Verschwunden. In nur 1 Minute.
Als wären sie ihm böse, haben sie ihren Gott in einen fensterlosen Betonbau, in dem selbst Don Camillo kein Netz hätte, von dem die Farbe abblättert, gesperrt.
20 Kilometer nordwestlich, am Lago dei Tramonti, die 3 Brücken übereinander am Ende des Sees. Mit der Industrialisierung Norditaliens wuchs sein Hunger nach Energie. Und mit ihm die Dämme. Außer den alten Brücken versanken Felder, Häuser und Wälder. Die Brücken im Lago dei Tramonti und die Gebäude im Lago cà Selva tauchen auf, wenn das Wasser der letzten Schneeschmelze im Laufe des Sommers durch Turbinen und Flussläufe in die Adria geflossen ist.
Man musste einen Weg finden, eine ganzjährige Stromproduktion zu ermöglichen.
Ingenieure der SADE, der Società Adriatica di Eletricità, eines Monopolisten in Privatbesitz, fanden ihn, so simpel wie genial. Ein riesiger Stausee würde das Wasser von 7 höher gelegenen Seen aufnehmen und wenn diese nach dem Sommer entleert wären, würde das zwischengelagerte Wasser noch einmal Strom erzeugen. Ganz so einfach war es nicht, ein riesiges System an Stollen und Rohrleitungen war erforderlich. Und ein geeignetes Tal in richtiger Lage und Höhe. Das fand sich mit der Schlucht des Wildbaches Vajont, der bei Longarone in die Piave mündet. Ein Tal in Form einer Flasche, mit steilen Wänden, dessen Flaschenhals man nur mit einer Mauer verschließen musste. Ein Tal, vor dem ein Geologe schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts gewarnt hatte.
Ideal zu erreichen, zumindest mit dem Motorrad, ist es vom Lago dei Tramonti aus über Poffabro und die Forcella di Pala Barzana. 6-8-5. 6 Sekunden, 8 Sekunden, 5 Sekunden, solange brauche ich bei moderatem Tempo von Scheitelpunkt zu Scheitelpunkt der Kehren. Peter würde mir im Angriffsmodus noch eine halbe bis ganze pro Kurve abnehmen. Die sind, hier kapituliere ich, ohne Zahl zwischen Navarons auf der Ostseite des nur 800m hohen Passes und Andreís in der Valcellina. Heute hat es auf den 19 Kilometern 200% mehr Verkehr als sonst: 3 Autos, Rushhour.
Die Dörfer in der Valcellina und seiner Fortsetzung jenseits des Passo Osvaldo, dem Tal des Vajont, waren Orte, an denen sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Wenn sie aus dem gleichen Dorf waren. Denn noch in den fünfziger Jahren sprach jede Dorfgemeinschaft ihren eigenen Dialekt, man mochte sich nicht und man heiratete nicht untereinander. Gemeinsam hatten sie die Armut und das abgehängt sein. Gemeinsam auch das Erwerbsmodell, sie waren Bergbauern auf steilen und kargen Böden in der kältesten Ecke Italiens. Um an Bargeld zu kommen, man produzierte kaum Überschüsse, wurde im Winter geschnitzt, wobei jedes Dorf seine Spezialität hatte. Holzpantinen, Rechen, Löffel, Schüsseln. Im Frühjahr zogen die Frauen schwer bepackt mit ihrer Ware zu den Märkten in der venezianischen Ebene. Sie blieben, bis alles verkauft war. Angesichts der Armut in diesem Tal fragt man sich, ob die Frauen nicht mehr verkaufen mussten als das, was sie auf dem Rücken trugen. Wenige Menschen lebten in den Dörfern und auch die wenigen konnten sich kaum ernähren. Damals wie heute war Landflucht ein Problem, immer wieder gab es Auswanderungswellen. Weil es nie leicht war, hier zu leben, begrüßten einige den Bau des Dammes. Arbeitsplätze, der Aufstieg vom Ziegenhirten oder Bauern zum Arbeiter, statt einer oder zwei Kühen ein Moped im Stall, das erschien vielen verlockend. Andere fürchteten um ihre Existenz als Landwirte, denn viel von ihrem Land würde versinken.
Es kam die SADE, mit ihren Landvermessern, Aufkäufern und Anwälten. Die Dorfgemeinschaften waren gespalten, die einen wollten verkaufen, andere nicht. Nicht wenige mussten für kleines Geld verkaufen, weil die Grundstücke schon in Familienbesitz waren, als es noch kein Kataster gab, und später keiner daran gedacht hatte, das knappe Geld zum Notar zu tragen, um seine Felder eintragen zu lassen.
200 Meter, so hoch sollte die Staumauer werden, mit deren Bau 1956 begonnen wurde. 58.000.000 Kubikmeter Wasser würden Felder und Höfe und Mühlen hinter dem Damm verschlingen. Aber der SADE reichte das nicht. Grande Vajont sollte größer werden, gewagter, die höchste Staumauer der Welt. Man erhöhte die Planung auf 261 Meter: 150.000.000 Kubikmeter Fassungsvermögen. Noch mehr Enteignungen, Widerstand zwecklos. Der Bau wurde von Problemen begleitet, denn der Fels, an den die Staumauer anschloss, erwies sich als weniger stabil als gedacht, gewaltige Mengen an Betoninjektionen waren erforderlich.
Der Damm wurde standfest, er steht bis heute, und ich auf ihm. Von der Fahrstrasse auf seiner Krone sind nur verbogenen Moniereisen geblieben, heute überquert man ihn auf einem Steg aus Metallgittern. Stundenlang könnte ich dem Guide zuhören, dessen Sprache ich nicht spreche. Ich weiß wer Carlo Semenza war, wer Professore Muller aus Salzburgo war, wer Tina Merlin, wer Guiseppe Volpi, Conte di Misurata, war. Ich weiß jetzt auch, was Frana heißt: Erdrutsch. Der Guide redet eindringlich und man spürt die Empörung, die die Menschen dieser Gegend noch heute bewegt.
Zwischen Damm und Parkplatz hängen bunte Wimpel am Geländer, jeder mit einem Namen versehen, die Botschaft ist unmißverständlich. Nach 80 Schritten höre ich auf zu zählen, rechne nicht, will es nicht wissen. Oben ein unbarmherziges Plakat: 487 farbige Wimpel, 487 tote Kinder. Auf perverse Weise tröstet der Gedanke, dass da wenigstens keine Eltern mehr waren, die den Tod all ihrer Kinder betrauern mussten. Sie starben in der gleichen Sekunde.
Seit alters her siedelten die Menschen des Tals auf der Schattenseite und legten täglich beschwerlich viele Höhenmeter zu ihren Feldern auf der Sonnenseite, zur Flanke des Monte Toc, zurück. Sie wussten, ohne es bewusst zu wissen, besser als die Geologen, dass der Berg instabil war.
Ich bin in Casso, einem der Dörfer auf der Schattenseite, nah an der Staumauer, aber 230m höher als die Dammkrone gelegen. Das Dorf atmet immer noch bedrückende Ärmlichkeit, mit seinen schmalen Wohntürmen aus Feldsteinen, den winzigen Fenstern, die die Kälte draußen halten sollten. Jahrzehntelang war es fast unbewohnt, jetzt kommen die Nachfahren der alten Eigentümer zurück, richten die Häuser her. Ich bin enttäuscht. Alt und leer hat es bei früheren Besuchen seine Geschichte anders erzählt. Pittoresk und Satellitenschüssel, mit flachen Feldsteinen gedeckte Dächer und PU-Schaum, das will nicht mehr so recht harmonieren.
230m höher als der Wasserspiegel des Sees. Die Flutwelle hat eine Reihe von Dächern abgedeckt.
Im tiefer gelegenen Erto war es ähnlich. Im alten Erto, unterhalb der Staatstrasse., das von der Flutwelle getroffen wurde, in dessen niedriger gelegenen Gemeindeteilen 140 Menschen den Tod fanden.
Oberhalb der Strasse entstand das neue Dorf, als die aus dem Dorf Vajont wieder in ihr Tal durften. Sie bauten sich ein neues, modernes, nicht schönes Erto. Ihre Nachfahren bringen nach 52 Jahren in Casso und im alten Erto wieder Leben in die Häuser ihrer Eltern und Großeltern, die am 9.Oktober 1963 und in den Tagen danach überstürzt verlassen werden mussten.
Von der Zeit davor und danach erzählt das Besucherzentrum in der ehemaligen Schule. Ohne die Bilder kann man sich kaum eine Vorstellung von dem Erdrutsch machen. Man sucht ihn, wenn man schon längst darauf fährt. Ohne Luftbilder und Dioramen versteht man den Ort nicht. Denn wenn man an einer 20m hohen Felswand entlang fährt, 200 Meter lang, versteht man dann, dass die am 8.Oktober 63 noch auf der anderen Seite des Tals war? Kann man das verstehen? Und diese Wand, sie ist nur ein Teil eines Hügels. Eines Hügels, der stellenweise 200m höher ist als die Dammkrone, der mit den 250m von der Talsohle bis zum Niveau der Dammkrone eine Mächtigkeit von bis zu 450m erreicht. Ist das vorstellbar, ohne Zahlen, nur mit Worten?
Es ist auch mit Zahlen nicht vorstellbar. Nicht für mich. Ein Erdrutsch von 270.000.000 Kubikmetern rauscht am Stück in einen See, nicht nach und nach, sondern als kompakte Masse.
Die SADE war gewarnt.
Als während des Baus einer Strasse um den im Entstehen begriffenen See Risse in den Hängen des Toc entdeckten wurden, kam man erstmals auf die Idee, die Hänge zu untersuchen. Es stellte sich heraus, dass das orographisch linke Ufer ein altes Erdrutschgebiet war. Ein Konzern wie die SADE wußte sich zu helfen. Das Gutachten wurde nie publik gemacht, man ließ solange neue erstellen, bis sich einer fand, der feststellte, die instabile Schicht sei 10 bis höchstens 20m mächtig.
In einem Katastrophenfilm aus Hollywood würde ausgerechnet Eduardo Semenza, Sohn des Konstrukteurs und Projektleiters Carlo Semenza, als erster das wahre Volumen der instabilen Schicht erfassen. Der ganze Hang des Toc war ein uralter, zum stehen gekommener Erdrutsch, durch den sich der Bach Vajont sein Bett gefräst hatte.
Das ganze Projekt Vajont mit seiner Dramatik, seinen Schlampereien, seiner Korruption und mit seiner Fahrlässigkeit, die man kaum noch so nennen kann, lässt Drehbuchautoren aus Kalifornien wie Anfänger aussehen.
Als der See zur Probe eingefüllt wurde, waren die warnenden Zeichen nicht zu übersehen. Sie waren sichtbar, hörbar, spürbar. Dröhnen im Berg, Erdspalten, Erdbeben.
Die abebbten, sobald man Wasser abließ.
Schließlich ein erster Erdrutsch. Ein Riss tat sich am Hang auf, 2,4km lang, genau dort, wo später die gesamte Bergflanke abreissen sollte. Kein Grund, das Projekt aufzugeben.
Der See wurde entleert. Denn man rechnete damit, dass ein weiterer Erdrutsch den See teilen würde, baute Stollen, die wie kommunizierende Röhren wirken sollten, wenn der See wie erwartet in zwei Hälften geteilt würde.
Man ließ die Universität Padua ein maßstabsgetreues Modell bauen und einen Erdrutsch simulieren - während man den Talbewohnern erklärte, alles sei in bester Ordnung, es bestehe keinerlei Gefahr.
Statt Geld einzuspielen verursache Grande Vajont immense Kosten. So setzte man alles daran, möglichst bald die maximale Füllhöhe und dann eine Endabnahme zu erreichen. Bis man merkte, dass sich der Berg wieder in Bewegung setzte. Zuerst Millimeterweise. Aber stetig schneller werdend.
Und je schneller man abließ, umso schneller wurde der vollgesogene Berg, dem nun der Gegendruck durch das Wasser fehlte.
In jener Nacht im Oktober 1963 verlor er den letzten Halt.
La frana, der Erdrutsch, 270 Millionen Kubikmeter Fels und Geröll. Das muss man niederbrechen auf einen Zahl, mit der die Vorstellungskraft umgehen kann: Ein Würfel, ca. 650 x 650 x 650m groß. Das so oft als Vergleich bemühte, bedeckte Fußballfeld: 2,5km hoch bedeckt.
Knapp 2,5km, so lang war der Bergsturz tatsächlich. Bis zu 500m hoch riß der Hang einfach ab. Bis zu 400m war die rutschende Schicht mächtig. Wie eine offene Wunde ist die untere Hälfte des Toc noch heute kahl und blank.
270.000.000 Kubikmeter fallen in einen halb so großen See. Weil eine hauchdünne Trennschicht aus Ton unter dem Felsgestein liegt, erreichen sie dabei fast 100km/h.
Talaufwärts, Richtung Erto, wird das Tal breiter. Nur 50m hoch, verschlingt die Flutwelle dort einige Streusiedlungen mitsamt den Bewohnern.
Auf dem Gegenhang der Rutschung rast die Welle 250 Höhenmeter den Berg hoch, teilt sich an einem Bergsporn, statt der von der Universität Padua vorhergesagten 20m ist die Wand aus Wasser, die über die Dammkrone schwappt, über 150m hoch. Sie fällt in die Klamm, die wie ein Pistolenlauf auf Longarone gerichtet ist. 25.000.000 Kubikmeter. 25.000.000 Tonnen.
Der Damm steht. Zwei Minuten später steht in Longarone nichts mehr.
Longarone ertrinkt nicht. Longarone wird von der Druckwelle, die das Wasser vor sich herschiebt, planiert. Die Quellen widersprechen sich, wohl 2000 Menschen verlieren ihr Leben.
Kaum jemand im Ort überlebt, es gibt nur wenige Verletzte. Viele Leichen sind nackt, enthäutet, verstümmelt, von um die 500 fehlt jede Spur.
Die SADE hatte das ihre getan, um Schaden abzuwenden: Sie ließ die Bundesstrasse im Piavetal am Vorabend sperren. Sonst nichts.
Longarone evakuieren, dafür wollte keiner die Verantwortung übernehmen. Um eine Panik zu vermeiden.
Die Bewohner von Erto und Casso werden in den Tagen danach umgesiedelt, ihre Dörfer und der See zum Sperrgebiet erklärt.
Es beginnt der jahrelange Kampf um Entschädigungen und es beginnen die Strafprozesse durch alle Instanzen. Beides, Entschädigungen wie Strafen, fallen lächerlich gering aus.
Auf beiden Seiten gehen Menschen leer aus, die einen, weil sie Besitz nicht nachweisen können, die anderen, weil man ihnen keine direkte Verantwortung nachweisen kann.